epd Das Wort Haltung im Journalismus ist in Misskredit geraten. Zu Unrecht, wie ich finde. Dabei ist es nicht nur ein schönes deutsches Wort, das wir auch mit „Rückgrat“ umschreiben und für das es im Englischen keine wirklich passende Entsprechung gibt. Plädiert man für Haltung, bekommt man dieser Tage oft leicht abfällige Reaktionen, die das Thema wegwischen wollen, als ob es irgendeinen Journalismus gäbe, der neutral und über jeden Zweifel erhaben wäre.
Was die Kritiker bemängeln, ist wohl eine Art von Aktivismus im Journalismus, über den man in der Tat trefflich streiten kann. Vielleicht zielt die Kritik gegen Haltung im Journalismus auch auf den Meinungsjournalismus. Dabei ist Meinung genau das Gegenteil von Haltung. Ich kann eine Meinung haben, die ich morgen ändern kann; das ist nicht immer schlecht, denn neue Erkenntnisse können zu neuen Bewertungen führen. Aber das hat nichts mit Haltung zu tun, die bleibt stabil.
„Von Krise zu Krise“
Was ist die Haltung? Und was hat die Haltung mit Krisen zu tun? Die philippinische Journalistin Maria Ressa, Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2021, ist für mich ein Role Model dafür, sie beeindruckt in ihrer journalistischen Arbeit mit ihrer Haltung. Maria Ressa hat in ihrem Heimatland ein digitales Nachrichtenunternehmen gegründet, „Rappler.com“. Auf den Philippinen gibt es den Luxus nicht, den wir lange hatten, dass nach einer Krise die Welt wieder in Ordnung ist und dann irgendwann die nächste Krise kommt. Dort herrscht permanent Krise, die Journalisten dort müssen Haltung zeigen, um damit umzugehen.
Wir hier, Journalisten und auch das Publikum, erfahren jetzt, wie es ist, gar nicht mehr zu wissen, um welche Krise wir uns zuerst kümmern sollen. Wir haben hier, man könnte sagen, drei K-Laute: Covid, Krieg, Klimawandel. Und alles zugleich.
Ist der Journalismus dem überhaupt gewachsen? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn unser Journalismus war es bislang gewöhnt, von Krise zu Krise zu stürzen. Jeden Tag wurde eine neue Sau durchs Dorf getrieben, dazwischen haben wir uns mit Themen beschäftigt, die scheinbar keine große Haltung brauchen, Fußball zum Beispiel. Die Frage, ob der Journalismus den sich überlagernden, gleichzeitig auftretenden und einander bedingenden Krisen gewachsen ist, können wir noch nicht beantworten.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann am 24. Februar; was der Journalismus damit macht, wissen wir noch nicht so genau. Dazu gibt es noch keine Forschung. Journalismus und Klimawandel hingegen sind ein schwieriges Thema, das es schon sehr lange gibt, trotzdem wurde es bislang kaum erforscht. Die globale Erwärmung ist eine Dauerkrise, aber kein Ereignis, das den bisher üblichen journalistischen Krisen-Kriterien entspricht.
Im Fall Covid-19 hingegen wissen wir etwas mehr. Wir wissen, dass der Journalismus an Vertrauen gewonnen hat. Das mag überraschen, zumal - auch hier - viel vom Vertrauensverlust die Rede war. Doch im vergangenen Jahr ist genau das Gegenteil passiert.
Der Digital News Report des Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität Oxford basiert auf der weltweit größten fortlaufenden Untersuchung des Medienkonsums, eine digitale Umfrage rund um den Globus. Und er zeigt, dass während der Pandemie das Vertrauen in die Medien fast überall gestiegen ist, im weltweiten Durchschnitt um sechs Prozentpunkte. Das ist nach Jahren, in denen es mit dem Vertrauen in Medien immer weiter bergab ging, eine gute Nachricht.
„Medien sind wieder gefragt“
Medienunternehmen, die ich bei der digitalen Transformation berate, berichten mir von einem wachsenden Interesse ihres Publikums an ihren Informationsangeboten und steigenden Abo-Zahlen. Medien sind wieder gefragt, auch bei jungen Menschen. Während das Vertrauen in die traditionellen Medien gestiegen ist, bleibt es mit Blick auf die sozialen Netzwerke gleichbleibend niedrig. Nur jeder Vierte zeigt Vertrauen, die anderen haben eine gesunde Skepsis, kann man sagen.
Zwar wurde die Covid-Berichterstattung viel kritisiert, den Medien wurde von unkritischer Haltung, Anpassung, Hysterie und Verharmlosung so ziemlich alles vorgeworfen. Das Publikum sieht es anders. Eine große Studie, gefördert von der Rudolf-Augstein-Stiftung, durchgeführt von Kommunikationswissenschaftlern der Mainzer und Münchner Universität, zeigt, dass die meisten Leute ganz zufrieden sind mit der Qualität der Pandemie-Berichterstattung. Sie halten sie für verständlich, vollständig, glaubwürdig.
Lediglich in der ersten Welle, also im März 2020, fand ein größerer Prozentsatz der Befragten die Berichterstattung hysterisch, ein Jahr später hielten sie sie jedoch für deutlich angemessener. Der Anteil der Unzufriedenen belief sich im Schnitt auf ein Fünftel oder sogar etwas weniger, die anderen 80 Prozent zeigten sich recht zufrieden.
Was heißt das? Ist damit alles in Ordnung? Ganz so ist es doch nicht. Die Nutzerforschung des Digital News Reports 2019 zeigt ein differenziertes Bild. Gefragt, worin der Journalismus gut sei, sprachen die meisten Leute den Medien bei aktuellen Themen große Kompetenz zu. Hier sagen mehr als 60 Prozent „ich weiß immer, was los ist“, „ich fühle mich gut informiert“.
Bei der Frage, ob die Themen, die die Medien wählten, relevant für sie seien, stimmte jedoch weniger als ein Drittel der Befragten zu. Und bei der Frage, ob die Medien den richtigen Ton fänden, um sie anzusprechen, sieht es noch düsterer aus. Nur 16 Prozent fühlen sich abgeholt, während fast 40 Prozent sagen, dass die Nachrichtenmedien nicht den richtigen Ton träfen. Was heißt das? Sind das vielleicht nur die bildungsbürgerlich Aufgewachsenen, die den Ton angemessen finden, während er für die anderen zu abgehoben ist? Was mögen die Leute damit gemeint haben?
„Dauer-Fokus auf das Negative“
Was sie auf jeden Fall gemeint haben, ist, wie 39 Prozent der Befragten angeben, dass ihnen die Berichterstattung zu negativ ist. Für viele Menschen entspricht das Bild, das die Medien zeichnen, nicht unbedingt ihrer Lebenswirklichkeit. Vielmehr leben sie in einer intakten Nachbarschaft, die hilfsbereit ist, viele engagieren sich ehrenamtlich, sie gehen jeden Tag zur Arbeit, ohne dass sie von rücksichtslosen Rasern umgefahren werden.
Es geht also unglaublich vieles glatt in dieser Welt, wenn nicht gerade Krieg ist. In den Medien findet sich das jedoch nicht wieder, das wird nicht abgebildet. Der Dauer-Fokus auf das Negative macht vielen Leuten zu schaffen.
Die Folge: Ein Drittel gibt an, Nachrichten oft zu meiden. Und fast ebenso viele sagen, die Nachrichtenfülle erschöpfe sie. Es ist zu viel desselben. Man schaltet durch die Sender, man schaut auf Social Media, man schaut sich die Zeitungen an - immer dieselben Meldungen. Niemand, der in diesen Tagen gerade nicht mit Elon Musk und Twitter auf Seite 1 ist oder das Programm startet. Dabei sind auf Twitter vor allem Journalisten, Politiker und Wissenschaftler unterwegs, eine kleine Minderheit. Der Mehrheit jedoch ist Twitter egal, vielleicht wissen sie gar nicht, was das ist.
Müssen wir mit einem Thema auf allen Kanälen trommeln, das am nächsten Tag schon wieder weg ist? Die Folge ist, dass rund ein Drittel der Befragten bewusst einen Bogen um Journalismus macht. Diese Daten laufen über die Jahre durch. Und vielleicht beobachten Sie an sich selbst, dass auch Sie nur eine gewisse Menge an Informationen über den Krieg in der Ukraine ertragen können. Mir geht es jedenfalls so.
News Avoidance ist jedenfalls ein gravierenderes Problem als fehlendes Vertrauen. Gerade bei den Jungen ist schon jeder Zweite ein Nachrichtenmuffel. Das kann in Krisen eine Frage des Überlebens sein. Wer zum Beispiel in der Ukraine lebte und die Warnungen vor einem möglichen russischen Angriff nicht mitbekommen hatte, der hatte vermutlich weder seine Koffer gepackt noch sich Vorräte angeschafft. Diejenigen, die vorgewarnt waren, waren dagegen vermutlich als Erste im Auto. Es kann auch in der Pandemie um Leben und Tod gehen und für die dritte große Krise, den Klimawandel, gilt: Wer nicht informiert ist, verhält sich falsch. Das trägt dazu bei, dass es möglicherweise nicht gut ausgeht.
Sind Krisen gut für den Journalismus, weil sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Für viele Redaktionen lief es im vergangenen Jahr dank der Pandemie gut. In den USA hat die Präsidentschaft Donald Trumps die Abozahlen für manche Medien steigen lassen, dem investigativen Journalismus Auftrieb gegeben. Mit dem Einzug Joe Bidens ins Weiße Haus wurde es ruhiger, so dass sich gerade die großen US-Blätter fragen mussten, was machen wir jetzt?
„Ein schleichender Prozess“
Wie oft im Leben ist es so - teils, teils. Jede Krise hat ihre jeweils eigenen Herausforderungen. So hat die Pandemie dafür gesorgt, dass die Leute die Medien wieder sehr viel mehr beachtet haben, weil sie sich Informationen dazu erhofft hatten, was sie tun oder lassen sollten. Die Erkenntnisse sind gewachsen und haben sich damit stetig verändert, was wiederum bei manchen zu großen Irritationen und zu der Frage geführt hat, was sie jetzt eigentlich glauben sollen. Aber Medien sind immer nur so gut wie die Umwelt, in der sie operieren. Das ist die große Herausforderung.
Im Krieg ist das große Thema die Angst. Viele Menschen schleppen ein Trauma mit sich herum. Ich erlebe das selbst in der Familie und im Umfeld. Ich bin in West-Berlin aufgewachsen und das heißt, dort hat man lange mit einer gewissen Bedrohung gelebt. Dazu kamen die Kriegsgeschichten meiner Großmütter. Das ist sicher vielen vertraut. Was machen Menschen, wenn sie Angst haben? Sie flüchten. Wie macht man Journalismus zu diesem Thema, der nicht nur Angst macht, sondern dafür sorgt, dass die Leute sich trotzdem informieren?
Die dritte Krise, mit der wir es zu tun haben, ist die Klimakrise. Und sie ist möglicherweise schon deshalb die größte Krise, nicht nur wegen ihrer vielfältigen Implikationen, sondern weil sie ein schleichender Prozess ist. Berichtet wird derzeit viel über die Wege, wie man gegen die Klimaveränderung angeht, wie wir unsere Energiepolitik gestalten und so weiter. Das findet den Weg in die Nachrichten, aber das Phänomen als solches kommt nur zum Vorschein, wenn es größere Naturkatastrophen gibt.
Das Interesse der Leserinnen und Leser jenseits der Katastrophen ist messbar gering im Gegensatz zu dem, was immer beteuert wird. Auch wenn Umfragen ein Interesse am Klimawandel zeigen und vor allem junge Leute betonen, dass sie darüber mehr lesen, hören, sehen wollten, müssen Redaktionen feststellen, dass ihnen der Stoff nicht unbedingt abgenommen wird, zumindest nicht in jeder Form.
So unterschiedlich die drei genannten Krisen sind, sie haben auch Gemeinsamkeiten: Da ist erstens die Komplexität, die die Wirksamkeit von Strategien schwer abschätzbar macht. Viele Faktoren spielen eine Rolle; das macht es für die, die klare Antworten erwarten, schwierig. Auch für Journalistinnen und Journalisten, die den Anspruch haben, diese Antworten zu geben.
„Relative Homogenität“
Die relative Homogenität der Redaktionen macht es schwer, auf neue Herausforderungen zu reagieren und zu erkennen, was die Themen für ihr Publikum oder für die verschiedenen Zielgruppen sind. Jemand, der mit 2.000 Euro im Monat auskommen muss, hat vermutlich andere Sorgen und Bedenken als jemand, bei dem es 5.000 Euro sind.
Dann ist da noch das Problem, dass man sich zwar Expertise einholen kann, indem man Fachleute fragt. Aber wie ist deren Kompetenz einzuschätzen? Woher weiß ich, dass sie wirklich qualifiziert und anerkannt sind? Und es stellt sich die Frage nach der Transparenz: Gibt es Verbindungen zu industriellen Akteuren, bestehen Abhängigkeiten, sind sie wirklich unbefangen? Der Umgang mit Experten ist in jeder Krise schwierig.
Drittens. In jeder Krise gibt es hohen Erklärungsbedarf. Das gilt selbst für ein gebildetes Publikum. Einfach deshalb, weil man in einer bestimmten Zeit aufgewachsen ist, in der bestimmte Themen nicht auf der Tagesordnung standen. Als der Angriff auf die Ukraine begann, stellte sich für viele sicher die Frage, was ist eigentlich die Nato, was sind Abwehrsysteme, was bedeutet Zweitschlag-Kapazität? Wer nicht mit der Friedensbewegung aufgewachsen ist, hatte vermutlich hohen Erklärungsbedarf. Für Redaktionen heißt das, man muss erklären, ohne selbst Experte zu sein.
Und neben dem Erklärungsbedarf gibt es Gesprächsbedarf. Menschen haben Fragen. Ich berate lokale Medien und die sehen sich oft gar nicht in der Lage, beispielsweise Fragen zur Nato zu beantworten. Aber sie haben die Möglichkeit, Gesprächsforen zu organisieren oder Fragen ihrer Leserschaft an Experten und Expertinnen weiterzugeben. Gespräche zu initiieren, ist auch eine wichtige Rolle von Medien.
„Inklusive Unternehmenskultur“
Was bedeutet all das für die Redaktionen? Erstens, Kompetenz aufbauen. Wie macht man das? Indem man Leute mit unterschiedlichen Hintergründen beschäftigt und Leuten in den Redaktionen die Möglichkeit gibt, die Kompetenz zu bewerten. Und wenn man sie selbst nicht hat, dann holt man sie sich, dann kauft man Expertise ein.
Zweitens, Vielfalt und inklusive Unternehmenskultur schaffen. Dieser Aspekt wird extrem unterschätzt. Oft gibt es Leute in Redaktionen, die von dem jeweiligen Thema Ahnung haben, sich aber nicht trauen, sich zu Wort zu melden. In jeder Organisation gibt es Wortführer, denen man zuhört. Und es gibt die, über die gesagt wird, was soll der/die denn schon wissen? Es wird vielleicht gar nicht bewusst so gehandhabt, aber die Stillen schweigen dann. Es gilt also, Mechanismen zu entwickeln, alle Kompetenzen, die in einer Redaktion vorhanden sind, sichtbar und damit nutzbar zu machen. Das ist eine wichtige, große Aufgabe für Redaktionen. Da stehen die meisten am Anfang.
Drittens, Technik und Daten nutzen. Mit einem Smartphone lässt sich vieles machen, längst sind keine komplexen Systeme mehr nötig, um große Filme zu drehen. Manche Menschen sind visuell und mögen Bilder sehen, ihnen ist ein kurzes Erklärvideo lieber als ein langer Text. Und neben der Vielfalt der Formate gilt es auch, Daten zu nutzen und zugänglich zu machen. Datenjournalismus ist hier das Stichwort.
Während der Pandemie gab es hervorragende Visualisierungen, zum Beispiel, wie sich die Viren ausbreiten, dafür wird es bestimmt noch viele Preise geben. Journalismus ist nicht immer nur Wort.
Viertens, Nutzerbedürfnisse ergründen. Ich habe bewusst Nutzerbedürfnisse gesagt und nicht Leser und Leserinnen oder Hörer und Hörerinnen, weil wir in der Welt der Leser und Hörer nicht mehr leben. Menschen nutzen Medien und die Frage ist, was wollen sie von Medien, was versprechen sie sich davon?
Wie kann der Journalismus sein Publikum gewinnen und binden? Was macht man, wenn man die Experten hat, wenn eine inklusive Unternehmenskultur gelebt wird, in der sich die Redaktionsmitglieder auch trauen, etwas zu sagen?
Erstens, viel, sehr viel erklären: Das Grundbedürfnis vieler Menschen ist, zu verstehen, was vor sich geht. Dabei ist wichtig, aufzuzeigen, dass wir in einer pluralen Gesellschaft verschiedene Konzepte haben, dass es unterschiedliche Denkmodelle gibt. Dies zu erklären, ist essenziell.
„Bedürfnis nach slow news“
Darüber hinaus gibt es weiteren Erklärungsbedarf. Der Arzt ist Experte in seinem Bereich, kennt sich aber vielleicht mit Energiepolitik nicht aus. Die Ingenieurin kennt sich wiederum mit Jura nicht aus. Auch im bildungsbürgerlichen Rahmen brauchen viele Menschen vielerlei Erklärungen. In diesem Feld hat der Journalismus lange Zeit zu wenig getan, jetzt setzt hierzu ein großes Umdenken in Redaktionen ein. Das geht einher mit der Debatte über Transparenz. Hier geht es darum, deutlich zu machen, was man weiß und was nicht. Wir müssen sagen, worauf sich unsere Erkenntnisse gründen, erklären, woher die Expertin kommt, die wir gerade gefragt haben.
Zweitens gilt es, die unterschiedlichen Informationsbedürfnisse zu bedienen. Es gibt nicht nur das Bedürfnis nach „schnell, schnell und klack, das Nächste“. Neben dem Bedürfnis nach fast news gibt es eines nach slow news. Menschen haben möglicherweise unterschiedliche Bedürfnisse zu unterschiedlichen Tages- oder Wochenzeiten. Es haben sich in den vergangenen Jahren viele Medien gebildet, die ausschließlich auf slow news setzen, weil das dem Publikum näherkommt. Aber die Erkenntnis ist, dass die Menschen, die sich ohnehin gern informieren und schnelle Nachrichten konsumieren, auch gern die langen und ausgeruhten Stücke lesen. Ganz abgrenzen kann man das nicht, aber man sollte zumindest in beide Richtungen Formate entwickeln.
Drittens, Journalismus sollte visualisieren. Ich hatte eben schon einmal darauf hingewiesen, dass es ausgesprochen visuell veranlagte Menschen gibt. Infografiken sind ein probates Mittel. Aber sie müssen korrekt sein und stimmen. Ein Fehler darin diskreditiert den ganzen Artikel.
Viertens, Journalismus sollte Zielgruppen differenziert ansprechen: Man muss sich nicht wundern, dass junge Leute nicht die Formate und Produkte nutzen, die uns ansprechen. Die junge Generation ist auf den verschiedensten Plattformen unterwegs. Und man muss den Nutzerinnen und Nutzern da begegnen, wo sie sind, mit neuen, ansprechenden Formaten, zum Beispiel auch mit Spielen.
Die „Financial Times“ hat vor Kurzem ein großartiges Spiel herausgebracht, „The Climate Game“. Hier geht es darum, Wege zu finden, wie die Welt bis 2050 emissionsfrei werden kann. Dabei stehen mit Energieversorgung, Mobilität, Bauen und Industrieproduktion die vier Bereiche im Mittelpunkt, die für den größten CO2-Ausstoß verantwortlich sind.
„Perspektiven aufzeigen“
In dem FT-Climate Game geht es darum, die verschiedenen Interessen von Mensch und Natur auszubalancieren und zu Entscheidungen zu kommen, die den Planeten retten. Wenn die Spieler im Jahr 2050 angekommen sind, sehen sie die Projektion der Erderwärmung für das Jahr 2100, basierend auf ihren Entscheidungen. Ein ungeheurer Erkenntniszugewinn und ein hervorragendes Beispiel für neue Formate. Die „Financial Times“ hat bei der Entwicklung des Spiels eng mit der Internationalen Energie Agentur (IEA) zusammengearbeitet.
Fünftens, Redaktionen sollten weg vom „he said, she said“-Journalismus steuern. Ein Großteil traditioneller Berichterstattung besteht noch immer aus „der hat gesagt, die hat gesagt“. Man hat dann als Journalistin das Gefühl, ausgewogen berichtet zu haben. Aber es geht nicht nur darum, was gesagt wurde, es geht darum, was gemacht wurde. Politikberichterstattung besteht viel zu oft aus Politiker-Zitaten. Ich will aber wissen, was Politikerinnen und Politiker durchgesetzt haben und nicht nur, was sie ankündigen, in der nächsten Legislaturperiode machen zu wollen.
Sechstens, und das liegt mir besonders am Herzen: Wir brauchen konstruktiven Journalismus, der Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Dazu gehören für mich auch konstruktive Gesprächsformate. „Deutschland spricht“, entwickelt von „Zeit Online“, bringt zwei Menschen mit unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Positionen zum Austausch zusammen; sie werden dafür von einem Algorithmus einander zugeteilt. Ein großer Erfolg, der international Kreise zieht.
Ein anderes Experiment hat die Deutsche Welle vor der deutschen Bundestagswahl versucht: „Flipping the Script“ heißt es. Dabei diskutierten Bürgerinnen und Bürger, die Politikerinnen und Politiker hörten zu und konnten Fragen stellen. Mit anderen Worten: Es geht darum, konstruktiv und kreativ zu sein im Journalismus und mehr Perspektiven zu entwickeln.
Siebtens, Journalismus sollte verschiedene Perspektiven aufzeigen. Drei Viertel der Nutzer möchten nicht nur das an Information bekommen, was ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Wie sie dann in der Wirklichkeit reagieren und worauf sie klicken, ist vielleicht etwas anderes, aber Menschen wissen, dass sie Vielfalt brauchen. Das trifft auf alle Generationen zu. Und in Deutschland ganz besonders, hier sind es laut Digital News Report 80 Prozent, die sagen, sie wollen verschiedene Perspektiven haben. Das reflektiert auch, dass unsere Demokratie ganz gut funktioniert.
„Angemessene Unparteilichkeit“
Aber Achtung: Neutralität oder Unparteilichkeit heißt nicht Beliebigkeit. Und damit wären wir wieder beim Thema „Haltung“. Was beinhaltet denn diese Haltung, mit der Journalisten arbeiten? Die beste Definition bietet aus meiner Sicht die britische Medienbehörde Ofcom. Sie spricht von „due impartiality“, von angemessener Unparteilichkeit.
Unparteilichkeit oder Neutralität heißt also nicht, wir müssen jeder Partei gleich viel Sendezeit geben oder wir müssen jemandem, der für Klimaschutz plädiert, noch jemanden danebenstellen, der im selben Umfang den Klimawandel bestreitet. Keine beliebige und damit vermeintliche Neutralität, bei der man sich so hin- und herbewegt wie das Fähnchen im Wind.
Wir können uns sicher darauf einigen, dass zu dieser Haltung gehört, die Demokratie stützen und erhalten zu wollen. Wenn der Journalismus das nicht tut, sägt er sich den Ast ab, auf dem er sitzt. Wir sehen, wie in Mittel- und Osteuropa die Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt wird. Wenn die Pressefreiheit schwindet, wenn es sie nicht mehr gibt, gibt es auch keinen Journalismus mehr. Dann gibt es nur noch Propaganda, dazu braucht man keine Haltung.
Zum Glück gibt es in diesen Ländern und Regionen Journalisten und Journalistinnen mit Haltung, die dank digitaler Möglichkeiten neue digitale Medienunternehmen gründen und aufbauen, wenn etablierte Medienmarken zu sehr in Staatsnähe geraten.
Zur journalistischen Grundhaltung gehört auch, die Menschenrechte zu achten, ganz klar. Oft wird dem Journalismus vorgeworfen, er berichte lediglich über Minderheitenprobleme, das interessiere die Mehrheit nicht, warum könnten sich Redaktionen nicht in erster Linie um Mehrheitsthemen kümmern. Das ist eine populistische Sichtweise. Der Journalismus hat die Verpflichtung, die Menschenrechte, die Rechte eines jeden Einzelnen ernst zu nehmen. Es gehört zur Haltung, aufzuzeigen, wo Würde und Rechte verletzt werden, wo mit Menschenleben gespielt wird.
Und in den Katalog dessen, was Haltung im Journalismus definiert, gehört seit einiger Zeit auch das Stichwort Klimawandel. Es geht um nichts weniger als darum, unsere Lebensgrundlagen zu bewahren. Das ist relativ neu; vor zehn oder 15 Jahren wäre der Klimaschutz noch nicht als Bestandteil einer unverrückbaren Haltung im Journalismus genannt worden, vielleicht weil es noch zu viele Zweifel gab. Doch sobald wir wissen, dass etwas die Lebensgrundlagen zerstört, müssen wir eine bewahrende Haltung einnehmen.
„Faire Arbeitsbedingungen“
Mein letzter Punkt, in dem sich Haltung ausdrückt, ist: Als Unternehmen vorleben, was man in Kommentaren fordert. Denn man muss sich durchaus fragen: Kann ein Klimajournalismus, der nicht bewirkt, dass Menschen ihr Verhalten überdenken oder ändern, guter Journalismus sein? Und was ist, wenn man als Redaktion etwas fordert, aber das eigene Unternehmen nicht danach lebt? Kann man diesem Unternehmen noch glauben? Aus meiner Sicht stehen viele Medienhäuser in Sachen Glaubwürdigkeit am Anfang, nicht nur, was das Thema ökologischer Fußabdruck angeht, sondern auch, was Vielfalt, faire Arbeitsbedingungen, New Work und so weiter angeht. Viel wird in Kommentaren gefordert, aber das eigene Haus lebt es nicht.
Journalismus ohne Haltung ist nicht möglich! Journalismus ohne Haltung ist wie das Fähnchen im Wind oder er ist Propaganda. Journalismus braucht Rückgrat.
Alexandra Borchardt ist Journalistin, Beraterin und Honorarprofessorin an der TUM School of Management, München. Sie leitet das Journalism Innovators Program an der Hamburg Media School.
Aus epd medien 24/22 vom 17. Juni 2022